#_9999.. Träume werden wahr

#1 von Ar-one , 06.03.2015 19:32

Der Höhepunkt meiner Motorradkarriere traf mich so unerwartet und plötzlich, wie ein mögliches Date mit Pamela Sue Anderson.

Ich saß, vollgepumpt mit Chemikalien, auf einem unbequemen Kunstledersessel im örtlichen Krankenhaus, als ein Freund zu Besuch kam und mir, zusätzlich zu ein paar tröstenden Worten, auch gleich die neue Motorradzeitung mitbrachte.

Man schrieb das Jahr 1997.

Quick Mick beendete die Saison erwartungsgemäß mit seinem vierten WM Titel, was auch Max Biaggi bei den 250igern gelang. Vielleicht nicht mit den gleichen Erwartungen wie bei Doohan, denn Biaggi war von Aprilia auf Honda umgestiegen, wo ja eigentlich, aus deutscher Sicht, Ralf Waldmann für den Titel gesetzt war.
Aber sicher ist Anfangs der Saison gar nichts, wird sich der eine oder andere Haudegen gedacht haben, nicht zuletzt, als auch noch der Titel bei den 125iger vom "Sonne, Mond und Sterne" Frischling Valentino Rossi eingesackt wurde.

Sicher war nur, dass ich den Jahreswechsel in einem armseligen Krankenhaus verbringen durfte, bei dem mir nicht einmal die netten Krankenschwestern den nötigen Enthusiasmus für das Folgejahr 1998 geben konnten. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob ich zukünftig, wie gewohnt, meine alte RD500 durch den Schwarzwald ballern konnte - oder wollte. Mein Leben war grau, kalt und exakt an die farblos klinische Atmosphäre angepasst.

Zwischen meinem Tageshighlight, einer Zigarette beim Rundgang, und dem kargen Abendbrot, blätterte ich gedankenverloren in der Motorradzeitung. Immer der gleiche Käse. Irgendwelche Tests, zentimeterdicke Anzeigenseiten, etwas Reise und am Ende Sport.
Die letzte Seite von Holger Aue war meist das Beste.

Doch in diesem Heft gab es auch noch den Ausblick für 1998. Alle möglichen Konstellationen, von Vermuteten, über Bestätigte, bis zu den Herbeigesehnten. Fotomontagen wetteiferten mit Insider Beteuerungen. Eben die ganze Palette von A-Z. Oder besser, von A-R.

Wie von einer magischen Kraft gezogen, blieb mein Auge immer wieder an dem Akronym "R1" hängen. Was war das denn! Yamaha hat was Neues? Was richtig Neues?
Besser als ihre Genesis, Thunderace und die Blade von Honda zusammen? Multipliziert mit der GSXR 750 von Suzuki, soll man ungefähr zu der Hälfte dessen kommen, was dieser Oberhammer versprach? Ein Hammer, auch nur daran zu denken.

Doch da stand er. In Rot/Weiß.

Der neue Erlkönig von Yamaha. Die Yamaha YZF-R1!

Schon die Eckdaten von 150 PS und einem maximalen Drehmoment von 108 Nm, bei 177kg Trockengewicht, waren ein Versprechen des Teufels, und ließen jeden Amateurheizer in fiebriger Verzückung erschaudern. Nahezu ein 1:1 Leistungs-Gewichts Verhältnis.
Und dazu noch verpackt in einem Design, welches alles bisher da gewesene in den Schatten stellte. Ich starrte ungläubig auf das Bild.
Das Fahrwerk bestand aus einem steifen Aluminium-Brückenrahmen, einer Upside Down Gabel, und einer Aluminium-Zweiarmschwinge mit Oberzug. Der 1.395 mm kurzer Radstand, ein steiler Lenkkopfwinkel und lediglich 92 mm Nachlauf waren weitere Eckdaten der radikalen Maschine.
Der sehr kurz bauende Motor ließ zudem mit 582 mm eine sehr lange Schwinge zu und brachte dadurch mehr Traktion.

In einem Alter, indem sich viele Altersgenossen mit der Riesterrente, oder dem selbst gebastelten Kinderbettchen für die Enkel beschäftigten, traf mich die R1 wie ein Blitz. Ein Blitz, der sich in jahrelang aufgetürmten, tonnenschweren Wolken aus Hoffnungen und Sehnsüchten aufgeladen hatte, traf mich direkt ins Herz.

Wie oft hatten mein Yamaha Chef und ich darüber philosophiert, wie denn der Nachfolger der RD500 auszusehen hätte. Wir waren uns immer einig, dass da noch etwas Außergewöhnliches kommen müsste. Bei unseren haltlosen Spinnereien voll Jägerlatein, quer durch unsere Schwarzwaldausfahrten, trafen wir uns immer exakt in der Mitte und 100% auf der gleichen Wellenlänge. Mehr als Freund, denn als Vertragshändler, plauderten wir die Kurven rauf und runter, während der Sohnemann mein Moped wieder flottmachen musste. Über die Jahre lernten wir uns schätzen, und die kleine Plauderstunde alle paar Monate war der Erguss zweier Spinner, die immer noch an das geilste Spielzeug ihres Lebens glaubten. Ohne Zweifel waren wir von einem Nachfolger auf Basis der Rainey WM Maschine YZR500 überzeugt, die bestimmt schon in den Schubladen der Yamaha Ingenieure lauerte.

Ob das Zweitakt Projekt auf null geschrumpft wurde, weil sich die Umweltbestimmungen verschärften, oder die breite Käuferschicht fehlte? Keine Ahnung.

Schon Anfang der 90iger Jahre, als ich in Brünn noch munter mit den neueren Viertakt-Generationen balgte, deutete sich ein größerer Wechsel der Taktverhältnisse an. Die echten Spezialitäten wollte sich kein großer Hersteller mehr als Zugpferd antun. Zu stromlinienförmig war vielleicht auch die Kundschaft geworden.
Ich für mich hatte schon lange entschieden, dass mein Maßstab nicht unbedingt die Taktzahl (obwohl der Zweitakter einen unnachahmlichen Charme besaß), sondern der Fun, den der Zweitakter machte, ausschlaggebend sein würde.

Wenn also kein Zweitakter mehr auf neuem technischen Niveau nachgeschoben wurde, dann musste zumindest ein Viertakter die gleichen Eigenschaften besitzen, die bislang nur den Zweitaktern nachgesagt wurden: Extrem schwer zu beherrschende Power die nur von wenigen ausgeschöpft werden konnte und die in einem leichten Fahrwerk steckte, das dem neuesten technischen Stand entsprach. Ich wollte darauf arbeiten wie auf meinem Zweitakter. Die Gänge rauf und runter ackern. Den schnellen Rhythmus der Übergänge inhalieren. Mit Gewalten spielen und jonglieren. Mit jeder Faser meines Körpers hautnah an der extremen Power beteiligt sein. Der Dompteur, Steuermann und Teufel in einem sein, der die von Energie glühende Kanonenkugel durch den Schwarzwald dirigierte.

Mein fiebriger Kopf kühlte ab. Ich schweifte zu sehr aus. Niemals würde ich auf so einem Glanzstück der Motorradtechnik sitzen können.

Denn so was würde niemals, ohne Waffenscheinpflicht und dickem Bonitätsnachweis, um die Ecke beim Händler zum Kauf anstehen. So meine feste Überzeugung, genährt durch jahrelange Enttäuschungen diesbezüglich.

Trotzdem flüsterte eine intuitive Erkenntnis das Gegenteil, und entfachte ein Begehren in mir, diese vielleicht letzte Chance zu nutzen, um im noch körperlichen, geistigen Vollbesitz meiner Kräfte und Reflexe, einmal in meinem Motorradleben, auf so einem, dann vielleicht wahr gewordenen, Traum zu sitzen.

Von diesem Moment an war ich regelrecht fremdgesteuert. Unzurechnungsfähig, ja besessen und komplett auf die R1 fokussiert.

Die R1 lies mich nicht mehr los. Selbst auf die Gefahr hin, einer geschickt verpackten Luftnummer zu erliegen, die mich wieder reuig zu meiner alten RD500 trieb, wollte ich diese Gelegenheit beim Schopf packen. Die Eckdaten und das Erscheinungsbild stimmten. Mehr noch. Wenn so ein brillantes Design auf solch atemberaubende Eckdaten traf, die schon im Vorfeld, ohne das praktische Erleben, verzaubern und den Grundstein für Kult- und Legendenbildung legen konnten, war es geradezu meine Pflicht, dies auf seine realen Bestandteile zu prüfen.

Etwas blass von der überwiegend medikamentösen Ernährung der letzten Monate, stand ich vor meinem freundlich strahlenden Yamaha Händler. Das schelmische glitzern in seinen Augen, als er mir von den ersten Testfahrten mit der R1 erzählte, bestätigte meine bis dahin gereifte Vermutung. Der Hammer! Der pure Wahnsinn!
Da das Kontingent für 1998 schon weg war, und ich ehrlich gesagt noch gar nicht in gefestigter, körperlicher Verfassung war, um diesem Wahnsinn adäquat zu begegnen, einigten wir uns auf die '99 Version.

Auch mental litt ich derart unter Wahnvorstellungen, die zweifelsohne von meinem alarmierend hohen Adrenalinspiegel herrührten, der seit dem ersten Zusammentreffen mit der R1 aus dem Zeitungsbericht, in mir brodelte. Es war also besser und gesünder, nicht schon in diesem Zustand, der von Medizinern bestimmt als Grenzbereich zwischen Leidenschaft und Wahnsinn deklariert würde, auf die übrige Menschheit losgelassen zu werden.

Um das Gefühl zu beschreiben, als ich das erste Mal in natura vor einer R1 stand, muss ich in die metaphysische Ebene wechseln. Nur dort lässt sich dieser seltsame Zustand erfassen, der für Naturwissenschaftler nicht nachweisbar ist, und den selbst die Philosophen in mehrere Lager spaltet. Gibt es so etwas wie Kommunikation oder Gefühle zwischen Geist und Materie? Kann man sich in die Form eines Tanks, in das Design der Verkleidung, oder das elegant zugespitzte Heck verlieben?

Meine Augen streichelten über die sportlich nach unten gedrungene Front mit der kleinen Scheibe oben drauf, die auf den ersten Blick mehr fürs Design als für den Windschutz geeignet war, was sich aber als Fehleinschätzung herausstellte. Die praktische Überprüfung ergab eine ausgetüftelte Stromlinie, die widerstandsfrei, an und über den Helm führt. Vorausgesetzt man nutzt alle vorhandene Möglichkeiten und liegt mit dem Kinnschutz des Helms in der leichten Kerbe vor dem Tankdeckel. Ohne diesen Zentimeter Tiefe, würde der Helm das Quäntchen aus der Verkleidung ragen, so dass die Stromlinie leichten Wiederstand bekommen und bei den fest getackerten 299 km/h, nicht die grandiose Stille in dem engen Speedkanal ergeben hätte.

An solchen Feinheiten erkannte ich schnell, dass die R1 nicht für Jedermann gebaut wurde. Schon ab 1,80cm Körpergröße, oder einer überdurchschnittlichen Körperfülle, musste man sich an das R1 Konzept heranzwingen. Oder kurz gesagt: Sie wurde einfach für mich gebaut!

Scheinwerfer wie Hornissenaugen - gefährlich elektrisierend. Die Seitenzüge des mächtigen Delta Box Rahmens unterstrichen den faszinierend geformten Tank, vom Lenkkopf bis zur Mitte, wobei die breiten Seitenzüge Stabilität vermittelten, ohne klobig zu wirken. Die eher klassische Schwinge mit Oberzug nahm eine freche, kurze Radabdeckung auf, die, wie gewünscht, den breiten fetten 190iger Schlappen freigab. Ein nach hinten zugespitztes Heck mit zwei runden Rückleuchten verstärkte diesen "fetten" Eindruck eindrucksvoll.

Ein Kunstwerk!

Genauso wie ich mir das bei der RD500 immer gewünscht hatte. Die Sitzbank flach wie ein Mossgummi, und immer wieder dieser schöne Tank. Zentral in der Mitte. Je nach Blickwinkel, an Dynamik zu- oder abnehmend. Die einteilig gegossenen Bremssättel saßen mit den blauen Einsätzen, zierlich an der etwas schmal wirkenden Upside Down Gabel. Die Felgen, hohlgegossen, schwarz, breit, stark.

Das am meist beeindruckende aber war der Gesamteindruck, der auf den Fotos nie so rüberkam. Die Aura, - die nicht digital festzuhaltende Kombination, die nur am plastischen Modell zu erkennen war: klein, kompakt wie eine 600er, aber kraftvoll, dynamisch wirkend wie eine 1000er.

Was früher bei der 750iger Genesis gang und gebe war, nämlich den 1000er Motor einzupflanzen, gab es hier, frei Haus und sauber abgestimmt, auf den Ladentisch. Und der 1Liter Motor hatte es in sich. Mit 65,3 kg fiel der 11,8:1 verdichtete, 998 cm³ große Motor um 9,5 kg leichter und dazu 81 mm kürzer aus als jener des Vorgängers YZF 1000 R Thunderace.

Wenn eine Ansammlung Metall und Kunststoff das Herz zerspringen lässt und ein Gefühl entsteht, keinen Tag mehr ohne dieses vom Schein des Wunderbaren umgebenen, traumhaften Gesamtkunstwerks leben zu wollen. Wenn schon der Schmerz einsetzt, nur, weil sie hier im Laden steht, und man sie wieder verlassen muss. Wenn Nichts und Niemand je solche Gefühle in einem auslösen konnte, und nur der drängende Wunsch vorherrscht, immer in ihrer Nähe zu sein. Ja, - was war das dann? Metaphysisch war für mich die Frage beantwortet, ob es mehr als ein rationales Verhältnis zwischen Geist und toter Materie geben kann. Es kann. Und wie es kann.

Wie eine Verbündete, zwinkerte sie mit ihren Hornissenaugen und flüsterte: "Ich bin nur da, weil du da bist. Ich wurde nur für dich gebaut und ich verspreche dir, du wirst nicht eine Sekunde von mir enttäuscht werden!"

Kunihiko Miwa, der Konstrukteur der R1, hatte ganze Arbeit geleistet als er verkündete, „die Supersportler müssten so kompromisslos auf sportlich getrimmt werden, dass beim Fahrer die pure Faszination und Begeisterung ankommt.“
Ich war der lebende Beweis. Geradezu prädestiniert dafür. Ich war der vom Marketing entworfene, fleischgewordene R1 Zielkunde.

Da in Anbetracht dieser Tatsachen, das Jahr noch verdammt lang war, und ich jetzt schon von den wilden Schüttelfrost Attacken eines an Entzug leidenden Junkies befallen wurde, hatte mein Super Yamaha Händler natürlich genug Mitleid und bot mir eine Vorführmaschine zum antesten an. So konnte ich mir wenigstens die vorläufige Bestätigung all meiner glamourösen Hirngespinste holen und zukünftig, bis ich denn mein eigenes Baby abholen konnte, etwas ruhiger schlafen.

Also, die RD500 zu Seite gestellt und drauf auf die R1.
Der erste Eindruck beim Aufstellen vom Seitenständer, hätte fast in einer Katastrophe geendet, weil ich fast auf die andere Seite gekippt wäre. Holy Moly! War die leicht! Natürlich wurde der Eindruck verstärkt durch den Tank, der den Sprit mehr unter der Sitzbank als oben unterm Tankdeckel hat und den Schwerpunkt mehr nach unten verlagerte. Oben im Tank, saß nämlich nur der mächtige Luftfilterkasten. Aber im Gegensatz zur RD500, jonglierte man schon im Stand, deutlich spürbar, mit weniger Kilos herum. Obwohl die R1, wenn man dann drauf saß, um einiges breiter wirkte.

Schon im Stand, bevor ich sie anließ, spürte ich: Da passt alles!
Alle Gedankenspiele auf der RD 500, was ich noch gerne ändern würde, waren hier bei der R1 in die Realität umgesetzt. Ein kurzer Druck auf den Starter, und die R1 schnurrte unter mir los. Bei meiner Körpergröße von ca. 1,73m, umarmte ich den Tank der R1 mit genau dem Abstand, der mir ein inniges Gefühl für die Maschine vermittelte, ohne dass ich dabei von der Größe und Anordnung behindert werden konnte.

Ein kurzes schnalzen am Gasgriff, und die R1 quittiert ihre Bereitschaft mit einem direkten, angriffslustigen fauchen. Der etwas Harte „Klack“ beim Einlegen des ersten Ganges, war wie der klatschende Handschlag für eine wundervolle Freundschaft. Das Loslassen der Kupplung, der symbolische Tropfen einer unlösbaren Blutsbrüderschaft, die mit nichts Irdischem vergleichbar war. Wir waren Verbündete, eine eingeschworene Zweiergemeinschaft. Sie war mein heimliches Juwel. Das Juwel, das man ein Leben lang herbeisehnen konnte und das einem nur einmal im Leben begegnet. Dessen Wert man nur schätzen konnte, wenn man wirklich, natürlich nur mental, jahrelang für die mühsame Reifung des edlen Gemenges, aus technischem Fortschritt, eigenem Traum, und vor allem, einem Seelenverwandten Konstrukteur, gefiebert hatte. Gleichfalls verabschiedete ich mich von der schnöden Welt und tauchte tief in die Welt der Geister und Mythen ein.
Mein Ur-Gen, das für den Jagdinstinkt verantwortlich war, gewann die Oberhand. Ich fühlte mich wie ein Häuptling, der auf dem besten Pferd, seinem Jagdbegleiter, Freund und Verbündetem saß. Der Urinstinkt, raus aus der „Höhle“, rein in das Ungewisse des frischen Morgens, nur mit dem treuesten Freund, dem besten Pferd (Motorrad), wurde reaktiviert und auf Hochglanz poliert.

Ich fuhr langsam durch die Stadt, in Richtung meiner Hausstrecke. Sachte ließ ich meinem aufgewühlten Inneren, Zeit sich an alle Details zu gewöhnen.
So lange ich im gemächlichen Bereich, also bis ca. 140 km/h fuhr, spürte ich deutlich die für höhere Geschwindigkeiten ausgelegte Stabilität, die sich in einer leichten Behäbigkeit bemerkbar machte. Die Gänge spielerisch zur Hälfte ausgedreht, mit allerlei Kunstübungen im Sattel, um die Intensität und das gegenseitige Aufwärmen zu beschleunigen. Das Getriebe war eng gestuft mit makellosen Übergängen, so dass ich immer das Gefühl hatte, ich wäre einen oder zwei Gänge zu tief. Im sechsten wollte ich immer noch mal raufschalten. Alles ging so leicht und behände, als ob die unbändige Kraft des Motors eine Feder vor sich her blasen würde.

Wenn der sechste Gang, im unteren Drehzahlbereich, mit mehr Frischgas versorgt wurde, gab es kein verschlucken oder unwilliges murren.
Nein - da offenbarte mir das Schätzchen ganz vorsichtig, welches Potential in ihr schlummerte, sollte ich ihr eindeutige Befehle in den unteren Gängen geben. Das gigantische Drehmoment zappte die R1 wie ein losgelassenes Gummiband in den optimalen Drehzahlbereich. Eigentlich war der Charakter des Sechsgang Getriebes ähnlich wie bei meinem Zweitakter. In jedem Gang gab es zügig Leistung. Die Überraschung war nur, dass die R1 das brachial über das gesamte Drehzahlband lieferte.

Nach ca. 50 km fühlte ich mich so wohl, als ob ich noch nie in meinem Leben auf etwas anderem gesessen hätte. Bis jetzt wurde jedes Detail, das ich mir im Hinterkopf zur Prüfung zurechtgelegt hatte, von der Realität weit übertroffen. Und ganz ehrlich - bei meinen Hirngespinsten hatte ich wirklich nicht gekleckert!
Auf meiner Hausstrecke angekommen, wollte ich erst vorsichtig zu Werke gehen, und eigentlich nur überprüfen, wie sich die R1 im Gegensatz zu meiner RD500 verhielt. Also erst mal die Reifen sauber anfahren, den guten Rhythmus finden usw. Dabei fiel mir auf, dass ich mich beim Schaltrhythmus ähnlich wie auf meiner RD500 verhielt, und dabei nichts von der Harmonie auf der R1 durcheinanderbrachte. Bei der 5 Gang Genesis, ein paar Jahre zuvor, sah das noch ganz anders aus.

Natürlich konnte man die R1 auch schaltfauler fahren. Prinzipiell reichte der fünfte oder sechste Gang für normale Ansprüche auf der Landstraße völlig aus. Für mich war aber das geniale, dass ich den Rhythmus des Zweitakters beibehalten konnte, ohne dass ich vom Motorrad zu Gegenteiligem gezwungen wurde.

Wäre das nutzbare Drehzahlband schmaler und der Sound kreischender, wäre die R1, für mich, der beste Straßen Zweitakter gewesen!

Die Beschleunigung war schlicht bestialisch. Im ersten Gang Gas geben wie bei der RD500 war nicht möglich. Diese Lektion bekam ich sofort zu spüren, als ich hinter einem LKW auflief, und wegen ungenügender Sicht ein paar Meter hinter ihm her tuckern musste.

Als ich bereit zum Überholen war, zog ich reflexartig, wie von der RD500 gewohnt, auf die Gegenspur und zog den Hahn durch. Doch plötzlich war es, außer dem kurzen „Wubb“ still um mich. Ich schaute gen Himmel, seltsamerweise ohne den Kopf nach hinten zu legen. Ich wusste nicht so recht wie mir geschah. Das war ein unfreiwillig fabriziertes „Männchen“ der reinsten Sorte.

Ist diese Erkenntnis erst mal verankert, kommt man bestens damit klar. Man musste nur aufpassen, und die mehr oder weniger schwungvolle Drehung des Handgelenks anpassen. Endlich hatte ich das Power Tier, das mit einem kurzen schnellen Gasgriffschnalzer in den Himmel abhob. War man gut drauf, konnte diese Beschleunigungsorgie im Zweiten und Dritten so weitergehen. Das Vorderrad hielt sich dezent und Reifenschonend vom Asphalt fern, tupfte nur ab und zu leicht auf die Straße, um mir zu signalisieren, dass es noch in der Gabel hing. Im vierten, fünften und sechsten Gang kam ich langsam an die Beschleunigungswerte, wie ich sie von der RD500 zwischen 0 - 160 km/h gewohnt war. Nur befand ich mich jetzt auf der R1, zwischen 240 und 299 km/h.

Der Fahrtwind, oder war es das Glücksgefühl, ich glaube eher ans zweite, drückte vereinzelte Tränen in das Wangenpolster meines Freddy Spencer Gedächtnis Arais, der ab 240 km/h verdächtig zu schlottern anfing.

Ab diesen Geschwindigkeiten sollte der Helm, und alles was sonst noch am Körper sitzt, eng anliegen. Bei der R1 musste man auf jeder kurzen Gerade damit rechnen, in Hochgeschwindigkeitsbereiche katapultiert zu werden, in denen andere physikalische und aerodynamische Gesetze herrschten und die für viele andere Mopeds unerreichbar, oder erst nach kilometerlangen Quälereien auf der Autobahn zustande kamen.
Darauf musste man nicht nur mental, sondern auch mit der kompletten Ausrüstung, vorbereitet sein.

Meine Kombi musste nachgeschneidert werden und da mein damaliger Hero Kevin Schwantz war, legte ich mir nach der Probefahrt, einen neuen, perfekt passenden, Kevin Schwantz Gedächtnis Arai zu.

Die Tage bis zur Übergabe meines Babys waren genau getimt, und zogen sich qualvolle Monate dahin. Erst als das Verfallsdatum auf meiner Kaffeemilch, mit meiner Übergabe übereinstimmte, hellte sich mein Leben wieder auf.

Genau an meinem 41. Geburtstag wurde die Erstzulassung meiner heiß ersehnten R1 gestempelt. Das Risiko, bei Graupelschauer die erste Fahrt nach Hause zu absolvieren kam mir gar nicht in den Sinn, denn die göttliche Vereinigung zwischen meiner R1 und mir, konnte nur bei Sonnenschein stattfinden. Dass die Sonne aber hauptsächlich aus meinem Herzen wärmte, war an diesem trockenen, kalten Märztag nichts Verwunderliches. Die Zeichen aus den höheren Ebenen der Mythologie aber waren eindeutig. Dieser Tag musste für mich, mit meiner neuen „Flocke“ R1, trocken, sonnig, kalt (bis halb erfroren) aber 100% Glück sein.

Bei meinem besten aller Yamaha Händler, wurde noch schnell die Schaltungsumlenkung angebaut, während mir der Chef ein paar technische Details, wie zum Beispiel den mickrigen Reserveinhalt ans Herz legte.
Da ich schon eine erste Probefahrt mit der Vorführ-R1 hinter mir hatte, also die elementaren Highlights ihres Charakters kannte, und deshalb nicht der Versuchung erlag, diese zu ungestüm bei der eigenen einzufordern, konnte ich diese, meine Eigene und Nagelneue, von der ersten Sekunde an vorsichtig mit meinem Geist befüllen und verbinden.

Sachte, wie ein frisch geborenes Baby, dirigierte ich sie aus Stuttgart raus in den Feierabend Verkehr. Ich nahm nichts richtig wahr um mich herum.
Selbst der normalerweise verhasste Berufsverkehr, den ich mit dem Motorrad tunlichst zu vermeiden versuchte, konnte dieser zauberhaften Geburtsstunde nichts anhaben. Während ich meine R1 in kommoder Drehzahl vor sich hin schnurren ließ, schaute ich immer wieder auf den Tank, die Verkleidung von oben, drehte mich um auf die Rückseite, wieder nach vorn über um das Vorderrad zu begutachten. Ich konnte es einfach nicht glauben. Die restlichen Verkehrsteilnehmer mussten denken, ich hätte ein Problem mit dem Motorrad.

Oh ja, und was für ein Problem ich hatte. Wie nur konnte ich meiner unbändigen Freude Platz machen, ohne vom Motorrad zu purzeln.
Eine Freude, die mir buchstäblich den Hals zuschnürte, die aufgestaut aus was weiß ich wie vielen Monaten und Jahren des Wunschdenkens ein Ventil suchte und nun, in diesem Moment, voll geöffnet werden konnte.

Ich saß endlich auf meinem Traummotorrad!

Ich schrie die Freude in den Helm, zitterte vor Erregung, so als ob ich den Triumph meines Lebens feiern durfte. Ich wollte irgendwo alleine mit der R1 sein, fand aber keinen Ort der meinen Ansprüchen genügte. In Ruhe eine Zigarette rauchen und nur das Motorrad anschauen, inspizieren - wirken lassen.

Ich wünschte mir einen Ort, wo ich Tag und Nacht mit der R1 zusammen sein konnte, denn es war jedes Mal ein Fiasko für meine Seele, wenn ich von der Garage raus musste. Ich konnte nicht loslassen und aufhören sie zu bestaunen.

Eigentlich hätten nur noch ein paar Kumpels von früher gefehlt, mit denen man, wie früher Usus, Samstagmittags nach dem Moped putzen ein paar Bierchen beim „Fachsimpeln“ zwitscherte, während die Mopeds aufgereiht wie in der Schaufensterauslage, geschniegelt bis zur letzten Schraube vor uns standen.

In diesen Momenten beneidete ich diejenigen, die in einem Loft wohnten, bei dem man mit dem Lastenaufzug direkt ins Wohnzimmer kam. Das wär’s gewesen. Abends bei einem Bierchen noch kurz an der R1 polieren und jeden Morgen nach dem Aufwachen, den ersten Eindruck, das Glanzstück des Tages wahrnehmen.

So aber war ich dazu verdammt, die R1 immer nur samstags, sonntags und feiertags, früh am Morgen, aus ihrer Maßgeschneiderten Abdeckhaube zu schälen. Maßgeschneidert für die R1. Ein Präsent des ‚R1/R6 Special Yamaha Kunden‘ Treffens, das von Yamaha Europa initiiert wurde und dessen limitierte Einladungen nur ausgewählte Yamaha Händler bekamen, die diese, an von ihnen ausgewählten Kunden weitergeben konnten.

Ein schon fest zementiertes Ritual verbot mir, die R1, wie schon zuvor die RD500, zu etwas anderem als nur zum entspannten Heizen durch den Schwarzwald zu aktivieren. Zum täglichen Hin und Her waren mir die zwei Teile viel zu schade.
Es musste immer etwas Besonderes sein, wenn ich, wie früher mit der RD500, das halbe Kaff um 7 Uhr morgens, kreischend im Zweitaktnebel weckte. Jetzt eben mit einem sonoren R1 Brummen.

Das Wetter musste passen, ich musste fit sein. Kein verkaterter Kopf, keine sonstigen Ablenkungen, sondern eher noch ein kleines Training zuvor, mit 100 Situps und 60 Liegestützen. Dann, wenn die Vögel zwitschernd einen schönen Tag versprachen, und die meisten Menschen ihren verdienten Samstagsausschlaf hielten, schlich ich mich in die Garage zu meiner zugedeckten R1. Die ganze Woche zuvor mit Vorfreude aufgezogen, befreite ich sie, mit dem strahlenden Blick eines Kleinkindes das Weihnachtsgeschenke auspackt, von ihrem grauen Schlafanzug.

Die R1 wurde selbstverständlich nach Gebrauch immer astrein geputzt und geschniegelt, so dass der erste Moment beim Abnehmen der Decke niemals durch eine angeklatschte Mücke getrübt werden konnte. Dann noch ein Zigarettchen nur zum Anschauen.

Anfangs dachte ich, die Begeisterung würde sich nach ein paar Wochen legen. Doch sie hielt ganze vier Jahre. Und hätte ich sie heute noch, wäre sie bestimmt, nur durchs Anschauen, ein Quell der Freude. Es gab einfach keine Stelle, keinen Millimeter, der diesen Augenschmaus beeinträchtigen konnte.
Kippe weg, Helm auf, Zündschlüssel rein. Die Benzinpumpe tickerte zur Begrüßung „Hi Men, alles klar?“ Choke ziehen und starten. Helm festzurren, Choke wieder zurück und mit zwei drei kurzen Schnalzern die Gasannahme testen. Und jedes Mal, wenn die Kupplung losgelassen wird, der Gedanke: welches Glück, was für ein schönes Gefühl. So geil!

Und los ging’s, zur schönsten Sache der Welt.

Die ersten Kilometer gab ich der R1 und mir etwas Zeit, damit wir gemeinsam die Startgymnastik zum warmwerden absolvieren konnten. Dabei wurden die Reifen etwas vorgewärmt und die Lederkombi an die Körpertemperatur anpasst. Die R1 gab mir ein sauberes Feedback über ihren Gemütszustand.
Zuerst fühlt sie sich leicht kippelig an. Das ist die Phase in der sie noch etwas Zeit mit den Reifen braucht. Meine Hausstrecke war natürlich so ausgetüftelt, dass ich die R1 nicht vor 20 Ampeln aufwärmen musste, sondern dass sie sofort auf flüssigen Landstraßen, mit unterschiedlichen Kurven, ihre Warmlaufphase abspulen konnte.
Mit mäßiger Geschwindigkeit, in lang gezogene Kurven gleitend, risikofreie Schräglage und kontinuierlich anziehende Gashand um den Griplevel auf die erste brauchbare Stufe zu bringen.

Sobald das kippelige verschwand, und ich das gewisse Gefühl im Hintern hatte, dass der Reifen die ersten kleinen Gummifetzen in den Asphalt krallte, gab ich beim Kurvenauslauf immer mehr Zunder.

Das passte genau mit meinem Layout der Strecke zusammen. Die ersten Kilometer, nach den Langgezogenen Kurven, kamen ein paar kleinere Landstraßen, die mit engeren Kurven und leichten Hügeln glänzten und wo der Belag schon einige frostige Winter überstanden hatte. Das war das letzte Stück fürs warmlaufen der Federelemente.

Dort wurden auch die ersten drei Gänge etwas abrupter und länger gezogen, so dass ich von den Asphaltunebenheiten nur durch ein leichtes zucken am Hinterrad informiert wurde, während das Vordere lustig in 10cm Höhe zappelte. Nun war auch ich aufgewärmt, denn bei solchen Straßenverhältnissen turnte ich auch hemmungslos auf der R1 um sie mit Kräften zu unterstützen.

Noch ein kurzer Abwärts Turn, bei dem die Bremsscheiben sauber gemacht wurden, und schon bog ich in das erste Highlight des frühen Morgens ein.
Breite Landstraßen, gigantische Kurven und keine Autos. Na ja, wenn, dann nur ganz wenige, die aber kaum ins Gewicht fallen.
Die erste Gerade, vielleicht 100m, schnupfte ich in Tieffliegerstellung und den ersten drei Gängen auf. Dritter reicht bis 240km/h.

Am Ende der kurzen Geraden kommt eine unübersichtliche Linkskurve, die über eine leichte Kuppe und von dort in eine leichte Bergab Rechts geht. Vor der Kuppe schalte ich meist etwas früher in den vierten, bis ich sicher bin, dass keine Überraschung entgegenkommt.

Manchmal und je nach Tageslaune blieb ich auch im Dritten, lupfe den nur kurz beim Umlegen in die Links, um dann, vor dem umlegen nach rechts auf der Kuppe, wieder aufzuziehen. In diesem Fall spürte ich die Kuppe deshalb, weil beim aufziehen des Dritten und beim Umlegen nach rechts, der Lenker verdammt leicht wurde und das Vorderrad in der Luft hing, während es verzweifelt versuchte von der links Drehung des Lenkers zurückzukommen. Diesen leichten Wheely bei höheren Geschwindigkeit und Schräglagenwechsel mit Gegeneinschlag sah man öfters im Rennsport, und da in Vollendung meist bei Kevin Schwantz. Dass das nun auch bei mir, mit einem käuflichen Motorrad, zwar nicht in dieser kunstvollen Vollendung wie bei Schwantz, aber immerhin überhaupt so spielerisch funktionierte, trieb einen weiteren Glücksmoment in mein Herz, und wieder gibt’s einen Wai aus Dankbarkeit für Kunihiko Miwa.

Die Glücksmomente laufen sich warm und so geht es zügig bis in den Sechsten. Das sind dann Geschwindigkeiten, bei denen die Zentrifugalkraft, aus einer vielleicht optisch verzerrten Geraden, eine langgezogenen Kurven macht. Auf der RD500 hätte ich sie gar als Kurve gar nicht ernst genommen, weil ein leichter seitwärts schwenk mit der Arschbacke völlig gereicht hätte.

Aber die R1 zog mich durch diese Streckenteile mit Geschwindigkeiten, bei denen man das Atmen vergisst, bei denen die Wahrnehmung in kleinste Sekundenbruchteile aufgelöst werden muss, weil in diesen Sekundenbruchteilen hunderte von Metern unter einem weg zappen. Doch das ist nur Theorie. Theorie, in einem Moment der psychisch und physischen Wahrnehmung des 299 Km/h Bereichs. Mitten im Schwarzwald. Eingesäumt von mächtigen Bäumen auf wunderschönen Landstraßen. Immer das nächste Ziel im Fokus. Die Kurve in der Ferne, die einen Wimpernschlag später vor einem steht. In diesen Sphären, wo dich die kleinste Konzentrationsschwäche in die Erdumlaufbahn schießt, wird die Luft verdammt dünn. Vergleichbar mit der Todeszone eines 8000er. Erkennbar daran, wenn der Ultra kurze Blick auf den Tacho, nicht mehr schnell genug ausgeführt werden kann ohne eventuell die Vorschau, die Weitsicht, die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren. Jeder kleinste Augenblick, ist auf jedem Strecken Meter, eine Welt für sich.

Physikalisch und nüchtern betrachtet, vernichtet man bei Geschwindigkeiten von 200 bis 299 km/h in einer Sekunde ungefähr 55 bis 83m Wegstrecke. Was bedeuten kann, dass ein Augenblick, ein Wimpernschlag der Unachtsamkeit, bis zu 83 wertvolle Meter verloren sind, die vielleicht dringend für das Einleiten der nächsten Schräglage gebraucht worden wären.

Gleichzeitig fühlte ich mich in diesen Sphären pudelwohl, nicht zuletzt, weil die R1 das alles so berauschend schnell und locker erledigte. Zeit zum Nachdenken wurde von der unbändigen Gier, noch mehr davon zu erleben, aufgefressen. Ein Rausch der Sinne startete sein Intermezzo. Wer diesen Wahnsinn liebt und Hilfe braucht, sollte einen Stuhlkreis mit den Recken der Tourist Trophy machen. Das wäre dann eine Unterhaltung unter Gleichgesinnten auf unterschiedlichen Ebenen, die fern ab jeder „Normalität“ ihre Leidenschaft ausleben.

Mein Bewusstsein wurde von Unmengen Adrenalin befeuert, das die Nebenniere in einer übergroßen Pipeline ausstoßen musste, während die Bäume und die entgegenkommenden Fahrzeuge nur noch als fließendes, bunt gesprenkeltes Band an der Seite meines Tunnelblicks vorbei schnellten. Da ich die detaillierte Streckenkenntnis von der RD500 innehatte, waren diese Geschwindigkeiten durchaus möglich. Ich wusste immer was ich tat, und hatte nie das Gefühl, dass die R1 mich beherrschte, sondern sie war immer nur die Motivation und Ausführende dessen.

Genau genommen erledigte ich die gleichen Wochenendeskapaden wie auf der RD500. Nur dass ich mit der R1 einige Stufen höher zur Tür des Jüngsten Gerichts stand.

Sie war einfach so viel schneller, so viel leichter, so viel weiterentwickelt – so viel besser!

Sie war prädestiniert für alles was nach 160km/h kam. Langgezogene Kurven wurden zu echten Schmankerl, die mit der R1 irgendwann so sauber und bravourös zurechtgelegt werden konnten, dass selbst bei 200km/h und mehr, das Knie am Boden schliff.
So was war dann nicht das Resultat einer übertriebenen Turnübung, sondern nur, weil die Position immer gleich war, eine Arschbacke neben dem Sitz, das Knie leicht angewinkelt, aber der Speed, der fast unbemerkt, immer dramatischer wurde.

An all den faszinierenden Wochenenden baute sich ein Zustand von normalisiertem Wahnsinn auf, der mich immer mehr in die Lage versetzte, Dinge zu tun, die jenseits der Vorstellungskraft lagen.

Wenn ich dann morgens um 10Uhr, in Unterstmatt auf der Schwarzwaldhochstrasse meinen Milchkaffee schlürfte, zeugten nur die gekräuselten Gummiwürste an der Reifen Außenflanke und der gummierte, schwarze Abrieb am unteren Verkleidungsteil, von der Kamikazetour der vorherigen drei Stunden.
Ich war zum R1 Junkie mutiert, der kein Gewissen und keine Bedenken kennt, außer sich den Adrenalin Kick am frühen Morgen reinzuziehen.
Die R1 hatte Wort gehalten. Es gab keine Sekunde, an der sie mich enttäuschte. Im Gegenteil, sie zeigte mir mögliche Grenzen auf, die ich mit meinem Verstand noch nicht adaptieren konnte. Ich war ihr restlos verfallen, allein schon deshalb, weil sie mir immer noch eine mögliche Steigerung andeutete.

Mein Setup für die Landstraße war einfach, da Standard.
Da ich mit meinen ca. 70kg, um 10kg unter der Grundauslegung der Standardvariante lag, die für einen 80kg Fahrer ausgelegt ist, konnte ich, mit spürbaren Auswirkungen, die Standard Feder/Dämpfung zum Idealzustand „so weich wie möglich und so hart wie nötig“ einstellen.

Die Gabel hatte nach einer Landstraßen Brachialbremsung immer noch 1cm Sicherheitspolster vor der Blockung. Dabei konnte die Federvorspannung immer noch so weich bleiben, dass ich die normalen Unebenheiten der Straße fast unbemerkt überfahren konnte.

Das Federbein passte mit den Standardwerten. Nur die Vorspannung um 2 Klicks härter, damit ich ein etwas strafferes Gefühl an der Hinterhand bekam.

Natürlich kamen in dem Zug auch Gedanken auf, die R1 für die Rennstrecke umzurüsten. Dazu hätte dann ein richtig gutes Federbein, verbunden mit optimierten Gabelinnereien, gehört.

Doch ganz ehrlich. Diesen Zauber der ersten R1, wollte ich nicht im Kiesbett einer Rennstrecke begraben. Für die Zukunft aber, das wusste ich, würde eine zweite, abgespeckte Variante für die Rennstrecke dran glauben müssen.

Als ich dachte, es kann keine Steigerung mehr geben, las ich von einem neuen Michelin Reifen. Den „Pilot Race“. Sah man von ein paar unscheinbaren Alibi Rillen, schräg an der mittleren Seitenflanke ab, war das, für meinen Geschmack, ein astreiner Slick. Ich erinnerte mich an den Ausspruch von John Kocinski, der einmal im Brustton der Überzeugung davon schwärmte, dass nur der ein echter Mann werden konnte, der auf einem Michelin unterwegs wäre.

Wie recht er damit hatte, wurde mir an einem Samstagmittag klar, als ich die neuen Kleber von Michelin drauf gezogen hatte. Ich wollte nur schnell eine kleine Testfahrt auf dem kurzen Teil meiner Hausstrecke absolvieren.

Die ersten Kilometer waren mehr als kippelig. Und auch der Grip war in diesem Stadium höchst Gewöhnungsbedürftig. Entweder, es war wirklich ein echter Slick, der kompromisslos auf Grip ausgelegt war und deshalb sorgfältig aufgewärmt werden musste, oder es war die Lachnummer des Tages.

Doch wie bei meinem üblichen Aufwärmmodus, spürte ich schnell an meinen sensiblen Sensor Sitzfleisch, wie der Grip zunahm. Der warme Gummi schien sich nicht nur in den Asphalt zu krallen, sondern, je heißer er wurde, wie Pattex am Asphalt zu kleben.
Beim sorgfältigem Aufwärmen erkannte ich das Potenzial der Kombination Michelin und R1.
Meine Linienwahl musste ich völlig neu definieren.

Was ich zuvor bei den Metzeler Z3 nicht bewusst wahrnahm, nämlich, dass ich am Scheitelpunkt der Kurve beim Beschleunigen, mit einem unmerklichen Slide die Richtung bestimmte, wurde beim Michelin nicht akzeptiert.

Der hatte dermaßen Grip, dass eine völlig neue Linie abverlangt wurde, was mich in den ersten Kurven, noch leicht schockierend irritierte.
Aber, wie immer bei Verbesserungen, man gewöhnt sich schnell und mit Begeisterung daran. So knallte ich die R1 voll Vorfreude auf die am Sonntag anstehende große Variante meiner Hausstrecke, punktgenau und wie mit einem Ultra Kleber haftend, um die restlichen Ecken.

War ich bis dato mit dem Feuer eines Geisteskranken, dessen Flammen Haushoch loderten, unterwegs, so war der Michelin Pilot Race, der fehlende Kanister Rennbenzin obendrauf, der die Flammen der Ekstase bis in den Himmel feuerte.

Alle Grenzen, die ich hauptsächlich bei mir erkannte, und über die meine R1 nur verächtlich schnauben konnte, wurden mit dem phänomenalen Grip des Michelin wie lästige Moskitos beiseite gewischt.

Erst als die R1 auf dem Lichtmaschinendeckel durch die Kurve schmirgelte, verging ihr das Lachen. Den Anpassungsschliff am Auspuff auf der rechten Seite, hatte sie noch weniger gestört. Ich selbst konnte fast darüber grinsen, weil bei all diesen Schräglagen der Michelin nicht das kleinste Zeichen von Schwäche zeigte. Doch die Hybris war längst auf dem Weg zu den Hochgeschwindigkeitskurven, die letzte Bastion, die noch nicht bis zum letzten ausgereizt war, und die den Michelin auf eine echte Probe stellten sollte.

Jeder hat so seine speziellen Kurven, die er liebt, vergöttert und mit ehrfurchtsvollem Respekt überzuckert. Wenn dort, in diesen Höhen der sauerstoffarmen Luft, die die Ratio nicht mehr mit Nahrung befeuern kann, und der Junkie wie ein Spielball seiner Emotionen am Lenker der R1 flattert, der ultimative Kick passiert, ist man auf dem Götterberg des Landstraßenheizers angelangt.

Ich hatte mehrere davon, aber eine ganz spezielle.

Eine unübersichtliche Langgezogene Rechtskurve, die nach einem kurzen Beschleunigungsstück kam. Zuvor mit dem Metzeler hatte diese Kurve eine klare Grenze vermittelt, weil er in diesem Geschwindigkeitsbereich etwas schwammig wurde. Ok, vielleicht war das nur ein überdeutliches Feedback und von mir überbewertet. Aber beim Michelin gab es kein rühren oder sonstige Zicken, sondern nur dicke Vertrauensmaßnahmen in Form von sattem Grip im Überfluss.

Da ich bei der Beschleunigungsphase zu der Kurve schon aus einer Langgezogenen Rechtskurve komme, also auf der kurzen Geraden dazwischen, nur noch vom vierten in den fast ausgedrehten sechsten komme, stellt sich die Frage nach der echten Geschwindigkeit gar nicht mehr, weil jede freie Kapazität in 100% Konzentration verwandelt werden muss.

Mit dem Metzeler ging ich kurz vor der Kurve vom Gas und schaltete in den Fünften, was eine leichte Reduzierung des Schwungs nach sich trug. Genau richtig um bei der etwas schwammigen Hinterhand kein ungutes Gefühl zu bekommen.

Mit dem Michelin blieb ich irgendwann im sechsten und lupfte nur leicht, was zuerst etwas Überwindung kostete. Doch dann peilte ich um die Kurve in nie da gewesener Geschwindigkeit, und mit einer Schräglage die mein Leben für immer veränderte. Ich spürte meinen Schleifer am rechten Knie und war überrascht über die Schräglage, denn bei diesen Geschwindigkeiten liegt das Knie nur leicht außerhalb der Verkleidung.

Mit der Gewissheit eines Verrückten spürte ich eine seltsame Befriedigung, eine Art von Triumph, den ich mit leicht wackeligen Knien und einer Kippe im Mund, beim Stopp danach, auskostete.

Mein Schleifer war an der Auflagefläche spiegelglatt und schwarz verbrannt, also nicht die gewöhnlichen Schleifspuren, sondern ein sichtbares Zeichen, das den Wahnsinn im Grenzbereich dokumentierte.

Ab diesem Moment wurde mir klar, dass die einzige Grenze die es noch gab, ein Trümmerfeld mit R1 Teilen und den dranhängenden Fetzen meiner Wenigkeit war.
Das alles hätte ich noch akzeptiert. Schließlich war mir das Risiko schon klar, als ich das erste Mal die Kupplung an der R1 öffnete.
In den ganzen vier Jahren war ich überschwemmt von Glückshormonen, die jeden Kontakt zur Wirklichkeit verhinderten.

Ich weiß nicht, was letztlich dafür verantwortlich war, was den letzten Funken Sicherheitsinstinkt in mir aktivierte.
Der mich dazu brachte, das Ganze in einem neuen Licht zu sehen. War es der schwarz gebrannte Schleifer, oder war es das am Speed-Tunnel Rand wahrgenommene Auto, das mit Kindern vollgestopft, nach so einer Kurve entgegenkam.

Oder war es eine mystische Bestimmung, eine höhere Macht, dass ich dieses Kapitel meines Lebens, voller Glück, Leidenschaft und Extreme, unbeschadet überstehen sollte, weil ich durch ein wundervolles Band mit diesem Motorrad verbunden und geschützt war?

Ich erkannte die Abhängigkeit meiner selbst zu dieser genialen Verbindung, zu diesem, nun im Verstand angekommenen, Wahnsinn, den ich weder verringern noch auflösen konnte.

Genauso fremd gesteuert wie vor dem Kauf, aufgewühlt und wie in Trance, verkaufte ich die R1 und saß seitdem nie wieder auf einem Motorrad.

Der Schmerz kam erst später, als ich realisierte, dass meine Garage für immer leer bleiben wird. Doch zu der Zeit war ich nicht in der Lage, meine R1, so wie sie es verdient hätte, in mein Wohnzimmer zu stellen. Auch spürte ich den Dämon in mir, der mich immer wieder zum weitergemachen getrieben hätte. Bis zum bitteren Ende.

In den vielen Jahren, bis heute, habe ich nichts vermisst, weil ich wusste, ich hatte alles erledigt was mein Motorradleben ausmachte. Ich hatte einen Traum. Den Traum eines genialen Motorrads für mich. Dank eines japanischen Konstrukteurs, konnte ich diesen Traum wahrmachen und bis zum Exzess ausgelebt.

Bis auf die geplanten Rennstrecken Trips, die, vielleicht zum Glück, nicht mehr zu Stande kamen (das wäre ein finanzielles Desaster geworden), schaue ich, ohne unerfüllten Wünschen nachtrauernd zurück.

Nur die Demut darüber, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort gewesen zu sein und die mentale Reife, das geschenkte Glück zu begreifen und zu erfassen, wird mich das ganze Leben begleiten. Ein kleines Juwel in meinem Herzen, das mich immer wieder wärmt und glücklich macht.

Diese vier Jahre mit der R1 waren der Motorrad Himmel auf Erden für mich, den nur ein gleich magischer Blitz, der schon für den Beginn verantwortlich war, wieder auflösen konnte.


Ich danke Kunihiko Miwa, dem Konstrukteur der R1, dass er diesen wunderbaren Traum von einem Motorrad verwirklicht hat.







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zuletzt bearbeitet 19.12.2022 | Top

RE: Träume werden wahr?

#2 von tourenbiker , 06.03.2015 23:00

Ich sitze da, bin sprachlos und staune!!!

Wie lange brauchst Du um so einen Bericht zu schreiben???

Du könntest ja eine eigene Zeitung damit füllen!!!!

Einfach eine super Reportage, würde ich sagen. Du sprichst mir irgendwie ganz leicht aus dem Herzen. Ungefähr so habe ich mich gefühlt, als ich meine erste, damals offene FJ mit 130 PS bekam. Natürlich war das keine Rennmaschine wie die R1, aber man konnte die "Dicke", wie ich sie nannte, auch schon sehr sportlich bewegen. Allerdings mit anderen Grenzen!!


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RE: Träume werden wahr?

#3 von Ar-one , 07.03.2015 08:09

moin Albert, danke für die Blumen. Aber die Storys hatte ich schon im Speedweek Forum. Da gabs doch auch so ne Historie Abteilung. In dem Jahr hatte ich eine höchste kreative Phase, die natürlich durch die Erlebnisse meiner R1 eingeläutet, oder aktualisiert wurde. Und so schrieb ich in diesem Jahr meine ganze Motorrad Historie zu Papier, oder besser gesagt, hämmerte sie in die Tastatur.

Zudem wollte ich damals einer speziellen, mir sehr ans Herz gewachsenen Freundin, ein adäquates Geschenk zu ihrem 50. machen. Sie lauschte nämlich, in meiner aktiven Zeit, immer mit weit aufgerissenen Augen und Ohren, den fiebrigen Phantastereien meiner Motorradgeschichten, die vor und während der R1 Phase, in eine nahezu ekstatischer Trance aus mir heraussprudelte.

Eigentlich dachte ich, dass die Storys im Archiv Thread verstaut sind. Aber gestern, als ich ducatifan drauf aufmerksam machen wollte, stellte ich fest, dass dem nicht so war.

Und da die Storys auf einem alten Computer mit Office lagen, was mein neuer nicht so exklusiv hat, und die Übertragungen Formattechnisch etwas mühsam sind, viel mir die einfachste Variante ein: nämlich die Storys ins Forum zu packen.

Und wie sich bestätigt hat, hast dadurch auch du, lieber Albert, mal wieder was zu lesen. Übrigens, als ich gestern gelegentlich an ein paar Sätzen hängengeblieben bin, konnte ich selbst nicht damit aufhören. Mit aufgestellten Nackenhaaren las ich, und las ich... und las ich immer weiter...


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